The dilemma of how to reconcile the needs of security with the desire for humanity is the defining question of the twenty-first century. -- Madeline Ashby, Loss Prevention: Customer Service as Border Security
Abstract: Dies ist der Versuch der Beschreibung einer alternativen Gesellschaftsform. Ausgehend vom derzeit in der postindustrialisierten Welt verbreiteten System der repräsentativ demokratischen Nationalstaaten und deren strukturellen Zerfallserscheinungen wird eine Gesellschaftsform skizziert, welche aufbauend auf den bisher gesellschaftlich erworbenen sozialen Werten der Freiheit und Gleichheit eine positive Weiterentwicklung bringen könnte. Aufgrund Beobachtungen des Zeitgeschehens und daraus resultierender Überlegungen werden Thesen aufgestellt, die einer kritischen Betrachtung standhalten sollen, und aus denen eine weitere Handlungsmöglichkeit erarbeitet werden kann. Dieser Text ist eine meditative Zusammenfassung einer Weltsicht, die noch im Entstehen ist, und ausdrücklich der Diskussion und des Hinterfragens ihrer Annahmen bedarf; Aus ästhetischen Überlegungen wurde einer möglichst eindeutigen Beschreibung der dargelegten Sachverhalte gegenüber der Konstruktion des Konjunktivs im Satzbau der Vorrang gegeben.
In der Welt der Individuen ist es das Bestreben jeder Einzelnen, in einer Gesellschaftsordnung seiner Vorstellung zu leben.
Menschen sind nur in der Interaktion mit Anderen dazu in der Lage, ihre Bedürfnisse zu befriedigen — ein Fortbestehen ihrer Art ist nur durch die Bildung von heterogenen sozialen Strukturen aus vielen Individuen möglich. Das Streben nach Individualität bzw. die Möglichkeit der persönlichen Entfaltung ist nur zu Befriedigen, in dem — meist durch eine stark arbeitsteilige Organisation — die sie bedingenden Notwendigkeiten der Versorgung in dem Maße bedient werden können, dass dieses Bedürfnis als solches auch wahrgenommen werden kann (vgl. Maslov'sche Bedürfnishirarchie).
Die fortschreitende Arbeitsteilung bedingt wiederum die Notwendigkeit nach der Existenz einer (Gesellschafts-)Ordnung, welche in der Lage ist, Menschen mit unterschiedlichen Bedürfnissen und Fähigkeiten in einer Einheit zu binden, welche alle notwendigen Prozesse zur Bereitstellung der von ihnen benötigten Güter und Dienste zu koordinieren in der Lage ist. Bei fortschreitender Individualisierung der Gesellschaft kommt dabei noch das Bedürfnis nach Mitbestimmung über das eigene Schicksal hinzu.
Der repräsentativ demokratische Staat hat, in seiner Form als geographisch und rechtlich definierte Entität, den Vorstellungen einer Vielzahl unterschiedlicher Personen aus verschiedensten Lebensumständen und Weltanschauungen Genüge zu tun — oder zumindest Glaubhaft diesen Anschein zu erwecken, um seinen Herrschaftsanspruch zu legitimieren. Daher ist seine Führung genötigt, den Kompromiss, bzw. den "kleinsten gemeinsamen Nenner" in der Rechtssprechung zu finden.
Der Versuch der legislativen Mächte im Staat, in der Gesetzgebung möglichst alle Verhaltensweisen der ihr unterworfenen Menschen abzudecken, führt zu einem stetigen Wachsen der Komplexität des durch sie erzeugten Regelwerks; Dies führt zu einem Wachstum von Widersprüchen in sich selbst, welches in weiterer Folge unvorhersehbare Ergebnisse in der Praxis der Rechtssprechung mit sich bringt. Die versuchte Ordnung der Welt erschwert für die "Geordneten" die Orientierung und das Handeln.
In der politischen Realität wird es als Selbstverständnis begriffen, dass den Vorstellungen einer Gruppe von Menschen gegenüber Anderen den Vorrang gegeben wird. Die Legitimation der Macht derjenigen Struktur, welche einen solchen Eingriff in die persönliche Lebensgestaltung der ihr Zugeteilten ("Bürger" oder "Untertanen", je nach Prägung) erfolgt dabei zwar aus unterschiedlichen Motivationen und nach unterschiedlichen Methoden; Das Wesen jedes Staates ist es, dass einem Menschenstand (Regierung, Königshaus, Diktator etc.), welcher einen sehr kleinen Anteil der Gesamtbevölkerung stellt, die Macht gegeben wird, allen (anderen) Mitgliedern der Gruppe zu sagen, "So darfst du nicht leben/arbeiten/sein" oder "Du musst dich in dieser von uns bestimmten Form gebärden" und dieses Verhalten auch durch Anreize oder Zwänge einfordern zu können.
Die Gründe, einer Gruppe oder Einzelperson diese Entscheidungskompetenz zu geben liegen auf der Hand. In einem sozialen Gefüge mit so großen Diskrepanzen in der Weltanschauung ist schliesslich nur so Ordnung zu bewahren; Ein Konsens lässt sich nur über einen Zwischenhändler, ein Mittlersystem finden. Nun ist aber diese Entität, welche über andere bestimmt, nicht eine "ausserweltliche" Struktur, sondern besitzt einen eigenen Seinszustand mit Bedürfnissen und ihr eigenen Verhaltensweisen. Dies ist nicht einmal notwendigerweise dadurch bedingt, dass jegliche Machtstruktur aus Menschen mit gewissen "Verfehlungen" besteht — auch eine "unmenschliche" Entität, welche einen bestimmten Komplexitätsgrad übersteigt (wie Gesetzestexte oder auch Computerprogramme — vgl. dazu Charles Stross, Rule 34), zeigt ein Verhalten, welches nicht mehr durch die reine Kenntniss der Funktionsweise seiner Komponenten vorhersagbar ist. Die Symptome "moderner Demokratien" wie Korruption, Machtmissbrauch und die Ausweitung der Rechte Einzelner zum Nachteil Vieler sind Ausdruck dieser Tatsache.
Nationalstaaten mit festgelegten Grenzen und Gesetzen sind aber nicht die einzige Organisationform zur Koordination von Menschen(-massen). Es existiert eine Vielzahl — teils tradierter — Organisationsmethoden und Strukturen, welche der "Gesellschaft" bekannt sind, wenn auch ihr Wesen teilweise unvollständig oder unzureichend wahrgenommen wird. Die Rechtsordnungen der Nationalstaaten beschäftigen sich zu einem großen Teil mit der (Ein-)Ordnung dieser Stukturen und dem Festlegen der Regeln ihrer Operation (bzw. der Verhinderung derselben, siehe sogenannte "terroristische Vereinigungen" etc.). Bei kritischer Betrachtung der nationalstaatlichen Gesetzgebung und insbesondere deren Anwendung stellt sich jedoch die Frage nach einer gewissen Willkür. Das sogenannte "organisierte Verbrechen" operiert z.B. oft nach den gleichen (internen) Regeln ein Unternehmen oder staatliche Verwaltungsapparate — die Feststellung, das die Übergänge hier teilweise fliessend sind, ist nicht Polemik, sondern lässt sich durch sich durch Beobachtung des Weltgeschehens vielfach empirisch belegen.
Vor diesem Hintergrund bin ich der Meinung, dass die Organisationsmethode der "representativen Demokratie" und Nationalstaaten in der postindustrialisierten Welt am Ende ihrer Lebenszeit angekommen sind. Ich glaube, dass eigenverantwortliche Menschen, welche in der Lage sind, ihr Handeln gegenüber sich selbst und ihrer Umwelt zu rechtfertigen, einer neuen Form der Organisation bedürfen. Um das Bedürfnis nach Freiheit der persönlichen Entfaltung zu befriedigen ist eine radikale Lossagung von Indoktrination und Entscheidungen "über die Köpfe Anderer hinweg" notwendig. Das Ziel einer solchen Gesellschaftsordnung sei es, die grösstmögliche Freiheit in der Wahl der Lebensweise zu gewähren. Das soziale Gefüge, welches diese Freiheit bietet, kann keine geographischen Grenzen kennen; Es verlegt die Grenzziehung auf die weltanschauliche Ebene. Die Strukur, welche diese Art der Organisation erlauben soll, nenne ich in Anlehnung an das altgriechische Wort Phyle oder "Geistestamm" (siehe auch Neil Stephenson, The Diamond Age).
Eine Phyle konstituiert sich aufgrund der Weltanschauung ihrer Mitglieder, und hat den Zweck, diesen ein Leben möglichst nach ihren Vorstellungen von Erfüllung im Sein zu ermöglichen. Dies ist in einem pluralistischen Nebeneinander nur dann möglich, wenn jede Phyle sich als lebender Organismus im sozialen Gefüge begreift, und sich seiner daraus ergebenden Verantwortung im Sein bewusst ist; Wie ein Wald aus unterschiedlichsten Lebewesen besteht, welche nach ihren Bedürfnissen und Fähigkeiten miteinander leben, ist das Phylengewebe strukturiert — das Gleichgewicht zwischen Interdependenzen und "Sein-Lassen" bedingt das Überleben des gesamten Systems.
In der heutigen Welt sind bereits Strukturen vorhanden, welche Wesenszüge der Phylen vorwegnehmen; Im mitteleuropäischen Raum wählen diese häufig die Rechtsform des Vereins, um sich die notwendige rechtliche Absicherung für ihre Aktivitäten zu schaffen; Es können aber auch Unternehmen, Kommunen oder andere Zusammenschlüsse einen "Phylencharakter" aufweisen 1. Das Ideal der Phyle geht in seiner Ausprägung jedoch wesentlich weiter. Ein Wort, welches ein zentrales Wesen der Phyle sehr treffend beschreibt ist das der Parallelgesellschaft, welches aber im allgemeinen Sprachgebrauch meist in einem negativen Zusammenhang verwendet wird. Objektiv betrachtet beschreibt es jedoch einen wesentlichen Charakterzug des Phylengewebes: ein "Nebeneinander der Miteinander", welches vor allem durch das gegenseitige Sein-Lassen geprägt ist. Dies steht scheinbar im Widerspruch zu der in politischen Utopien häufig vertretenen These, eine Gesellschaft oder gar "die Menschheit" solle eine weitgehende Homogenisierung anstreben, in deren Konsequenz alle Menschen den gleichen Idealen Seinszustand anstreben.
Die häufig in diesem Zusammenhang (vor allem in der politischen Rhetorik) zu beobachtende negative Bewertung des Begriffs der Parallelgesellschaft rührt daher, dass eine solche Entität eine Bedrohung darstellt und daher zu bekämpfen sei. Diese Konstruktion einer "äusseren Bedrohung" ist ein häufiges Element von gesellschaftlichen Organisationsformen (wie Nationalstaaten oder die sogenannten "Weltkirchen") um ein größeres Maß der Homogenisierung innerhalb der Gruppe über zu erwirken.
An diesem Punkt besteht die wohl grösste Unterscheidung einer Phyle von den bestehenden "großen" Organisationsformen (Staaten, Kirchen, politische Stömungen etc.): dass sie ihren inneren Zusammenhalt nicht vordergründig durch die Abgrenzung gegenüber Anderen, sondern durch die der Gemeinsamkeiten ihrer Mitglieder erlangt. Vor diesem konstituierenden Element kann sie die anderen Phylen in ihrer Andersartigkeit akzeptieren, da sie auch ihre "große Gemeinsamkeit" (als Vehikel zur Vervollständigung des Lebens ihrer Mitglieder) kennt. Diese Akzeptanz der Andersartigkeit unter den Phylen wird bedingt durch die selbe Akzeptanz unter den sie konstituierenden Menschen; Die meisten weltanschaulichen Strömungen kennen das Konzept einer solchen gegenseitigen (Aner-)kennung, wenn sie auch andere Bezeichnungen dafür wählen. Ein wichtiges Element ist dabei die indiskriminierende Anwendung dieses Prinzips auf alle Menschen (und in weiterer Konsequenz gegenüber anderen Phylen). Vorraussetzung dafür ist die vorherige Erkenntnis der eigenen Verantwortung gegenüber sich selbst und der Welt. Eine Bedingung, deren Bedeutung meist in der populären Aufarbeitung der Weltanschauungen in den Hintergrund gerückt wird.
Die Erlangung des Bewusstseins ob der eigenen Verantwortung ist die Vorraussetzung zum Eintritt in eine Phyle und das Fundament des Phylengewebes. Es ist diese Bewusstseinsstufe das Ergebnis eines Prozesses, den ein Mensch in sich und für sich vollführt (sozusagen eine "persönliche Kompetenz"). Damit einher geht das Erkennen der Konsequenzen des eigenen Handelns; Daraus ergibt sich die Wahl einer Phyle und das Ausmaß der Interaktion in ihr (bzw. der Entsagung jeglicher Mitgliedschaft). Es ist dieser Umstand, der das Präkariat des Phylengewebes bedingt. Da jeder Prozess in Iterationen verläuft, welche eine jeweilige Veränderung der Wahrnehmung bewirken, ist das Erkennen der Vollführung einer solchen Iteration gleichzeitig von enormer Wichtigkeit und nicht zu mit Sicherheit festzustellen. Darum ist eine weitere Bedingung für die Existenz des Phylengewebes die Überwindung des Drangs zur (externalisierten) Kontrolle der Konformität (unter den sie konstituierenden Individuen).
Als Konsequenz der Maxime der Freiheit der Lebensweise wird das Phylengewebe durch ein möglichst geringes Maß an festgeschriebenen Regeln gehalten. Das Bewusstsein der eigenen Verantwortung ersetzt die (angenommene) Notwendigkeit, eine Gesetzgebung nach dem größten anzunehmenden Missbrauch zu beschliessen; Nach dem gleichen Prinzip wie das Entfernen jeglicher Beschilderung und Strassenmarkierung an gut einsehbaren Kreuzungen die Anzahl der dort stattfindenden Unfälle reduziert. Die Möglichkeiten zum Selbstschutz gegen tatsächlichen Missbrauch dieser Freiheit zum Schaden anderer steht dabei jeder Person und Phyle gleichermaßen frei, wobei zur Vermeidung einer Eskalation und damit verbundenen Störung der Gesamtstruktur stets die geringst invasive Reaktion bezüglich der persönlichen Sphären der beteiligten Entitäten zu erfolgen hat. Daraus ergibt sich — in scheinbarem Widerspruch zum Ideal der gegenseitigen Unterstützung — eine Distanz, welche eben ein Wesen der "Gesellschaft der Parallelgesellschaften" ist 2.
Wie jede Gesellschaftsordnung hat auch die Utopie des Phylengewebes seine Schattenseiten und Points-of-Failure. Wie bereits beschrieben scheinen menschliche Machtstrukturen dazu zu tendieren, die bereits bestehenden Differenzen der Machtverteilung zwischen den sie konstituierenden Individuen zu verstärken, und damit in weiterer Folge zu Machtmissbrauch und/oder autokratischen Strukturen zu führen. Die Beschreibung einer gesellschaftlichen Ordnung hat, sofern sie glaubhaft sein soll, sich diesen Dissonanzen zu stellen. Nur aus der kritischen Auseinandersetzung mit ihnen können Erkenntnisse gewonnen werden, welche schädliche Wirkungen in der Ausführung abschwächen oder gar verhindern können. Dies ist umso wichtiger, wenn jemals der Übergang in die gelebte Realität gemacht werden soll. Es ist meine Überzeugung, dass die einzige Legitimation einer Gesellschaftsordnung darüber gewonnen werden kann, dass sie sich selbst ständig einem kritischen Vergleich ihrer Realität mit ihrem erklärten Idealzustand stellt. Bei unzureichender Erfüllung ihrer selbst gesteckten Ziele hat eine Gesellschaft sich selbst gegenüber die Pflicht, ihre Struktur und Verhaltensweisen ohne Tabus zu überdenken und gegebenenfalls zu ändern.
Da den Phylen grösstmögliche Freiheit in der Wahl ihrer internen Organisation gelassen werden soll, ist eine negative Entwicklung innerhalb einzelner Strukturen absehbar. Das Bekenntnis zur "Anerkennung der gegenseitigen Unterschiede" verbietet jedoch in diesem Zusammenhang eine Einmischung anderer in die inneren Angelegenheiten. Ein moralisches Dilemma im Bezug auf die "humanistische Rechtfertigung" eines Eingriffs in die "persönliche Sphäre" der Phyle ist zu erwarten. Aus diesem Grund ist ein weiteres Prinzip des Phylengewebes, allen Individuen stets die Wahl ihrer Zugehörigkeit zu geben; Im Gegensatz zum Eintritt, welchem immer sowohl die Phyle als auch das potentielle Mitglied zuzustimmen haben, muss der Austritt jedem Phylenangehörigen ständig frei stehen. Dadurch steht die Phyle stets under dem evolutionären Druck einen "Konsens mit der Realität" zu finden. Es sei das Phylengewebe ein Marktplatz der Weltanschauungen, in dem sich jede Form der Organisation stets ihr Potential zur Handlung zu bewahren hat.
1 {.1}
Hierzu sei angemerkt, dass es nicht unbedingt einer ausdrücklichen Willensbekundung bedarf, um an einer solchen Struktur teilzuhaben — teiweise bedarf es nur dem Teilen einer bestimmten Weltanschauung oder Geisteshaltung, um Teil einer solchen Gesellschaft ("Seilschaft") mit "Phylencharakter" anzugehören, z.B. bei "erweiterter Nachbarschaftshilfe" unter Migranten.
2 {.2}
Es sei in diesem Zusammenhang angemerkt, dass nur die Minimierung des individuellen Leides das Ziel einer jeden Gesellschaft sein kann, wohningegen dessen völlige Beendigung weder möglich noch zweckmässig erscheint.